Apropos Identität: Will ich wissen, wer ich bin?
Besonders in Zeiten wie diesen werfen sich Fragen nach Begriffen wie Identität, Heimat und Fremde auf. Diskurs ist wichtig. Ich bat die Philosophin Cornelia Bruell um einen Gastbeitrag dazu; sie hat sich intensiv mit europäischen Identitäten auseinandergesetzt. Identität ist ein Prozess, sagt sie.
Will ich wissen, wer ich bin?
Ein Gastbeitrag von Dr. Cornelia Bruell*)
Zäune werden hochgezogen, Grenzen werden dicht gemacht. Ängste, die wir überwunden glaubten, werden geschürt. Absperrungen werden errichtet, aus Angst, sich zu verlieren – die eigene Identität, die Heimat, die Kultur.
In Philosophie und Politikwissenschaft hatte man sich längst von einem essentialistisch verstandenen Identitäts- und Nationenbegriff verabschiedet. Wie fragwürdig auch immer der Begriff der Postmoderne war – ein substantieller Identitätsbegriff, ein essentieller Kulturbegriff: ein No-go. Nun werden diese alten Konzepte wieder ausgegraben.
Kann das unsere Zukunft sein? Kulturelle Identität über Grenzziehung in einer globalisierten Welt der Migration und sozialer Mobilität?
Zunächst beruht die Vorstellung einer statischen Identität auf einem Missverständnis. Identität ist etwas, das entsteht und produziert wird im Diskurs. Nur durch Bezugnahmen auf das Andere, durch Grenzziehungen und Wiederholung, lässt sich Identität stabilisieren. Schon Nietzsche wusste: „[…] der Schein von Anbeginn wird zuletzt fast immer zum Wesen und wirkt als Wesen!“ (Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, 2. Buch, §58) Identität ist ein Prozess – veränderbar, wandelbar, sie zu erringen bedeutet Arbeit – sie ist kontingent, sprich abhängig vom Kontext. Aber was, wenn sich selbst Kontexte, also jede Möglichkeit der Bezüglichkeit auflösen?
Wir brauchen neue Handlungsräume
Wenn das Fremde in der Ferne zu finden ist, gilt es als exotisch. Es erweckt sogar Sehnsüchte. Das Fremde aber, das vor meiner Türe steht, birgt Gefahr. Erst dann lässt es sich in seiner vollen Andersheit erkennen. Die Alternative des postmodernen Typs fließender Identitäten und Hybride findet politisch wenig Resonanz.
Wie kann aber nun das Gefühl der sich zersetzenden Identität durch das Fremde überwunden werden?
Es müssen zunächst neue Räume geschaffen werden – Handlungsräume. Nicht über das Sein – oder den zum Sein gewordenen Schein – einen imaginären stabilen Wesenskern, sollten wir uns definieren, sondern über das Handeln. Das gemeinsame Handeln, das sich an einer Vision, einem Menschenbild orientiert, kann Orientierung und Stabilität bieten.
Eine Begegnung mit dem Anderen kann nur stattfinden, wenn wir uns von stabilen und fixierten Identitätsvorstellungen lösen. Der Mensch definiert sich dann über sein Verhalten dem Anderen gegenüber.
Bei Levinas geht die Verpflichtung dem Anderen gegenüber dem Selbst voraus, auch wenn das Verhältnis immer ein asymmetrisches, uneinholbares bleibt. Viele, tausende freiwillige Helfer und Helferinnen handeln bereits und lassen damit neue Verhältnisse und ein neues Verständnis vom Mit-Sein entstehen.
Sich vom Identitätsgedanken zu lösen bedeutet nicht, sich in reiner Schizophrenie oder im luftleeren Raum wieder zu finden. Es geht vielmehr um eine innere Haltung. Eine Haltung, die nach außen kommuniziert, offen zu sein, dem Anderen wirklich begegnen zu wollen und das Selbst in der Interaktion entstehen zu lassen. Beginnen wir also mit Heiner Müllers wunderschönem Satz: „Ich will nicht wissen, wer ich bin“ und vervollständigen wir ihn mit: „Ich will wissen, was ich tue.“
*) Zur Person:
Dr. Cornelia Bruell betreibt eine philosophische Praxis namens Philoskop in Baden bei Wien. Außerdem lehrt sie an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien sowie der Comenius University Bratislava.
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