Die leider weit verbreitete Vorstellung, wir müssten andere anprangern, damit die überhaupt etwas empfinden, ist ein Irrtum, so Pfaller in seinem neuen Buch: “Wir befinden uns in einer Kultur – auch durch die Struktur der „sozialen“ Medien, in der sich die Gelegenheit, zornig auf andere zu zeigen, verstärkt hat und daher wird das auch in zunehmendem Maße praktiziert”, so der Autor in einem
Interview mit dem SWR: “Nicht zuletzt deshalb, weil die Scham ein Zeichen dafür ist, dass man etwas Besseres ist – man hat die Scham so wie man eine kostbare Handtasche oder Armbanduhr hat, die der Andere vielleicht nicht hat und so kann man zeigen, dass man etwas Besseres und Edleres wäre. Das Problem dabei ist, dass auf andere mit Fingern gezeigt wird mit der Forderung, sie mögen von der Bildfläche verschwinden – oft allerdings sogar ohne jegliches Argument.“ Das sei das besonders Zerstörerische an der gegenwärtigen Debattenkultur. Denn jeder sollte prinzipiell die Möglichkeit haben, sich zu Argumenten zu äußern, statt sich aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen.
Die Aussage “Schäm dich” mutierte zur Kampfansage
Hier gibt es eine Scham, die mit Stolz formuliert wird, meint Pfaller im Standard-Interview: “Die Scham ist das geworden, was man in der Soziologie ein Distinktionsgut nennt, vergleichbar einer teuren Handtasche. Man ist stolz, Scham für den anderen empfinden zu können. Dadurch deklariert man sich als etwas Besseres, Feineres. Und man versucht, den anderen mundtot zu machen”.
Wir sind aber trotzdem keine Schamgesellschaft, denn “… Schamkulturen wie etwa die japanische oder die der alten Griechen kennen nicht nur das Gebot, dass man sich keine Blöße geben darf, sondern zur Scham gehört noch ein zweites Gebot, nämlich das, über Blößen anderer gnädig hinwegzusehen, und stattdessen so zu tun, als hätte man sie nicht bemerkt”, das könnte man das Diskretionsgebot der Scham nennen, so der Philosoph und beklagt: “Wir in unserer Pseudo-Schamkultur verhalten uns da anders – wir sind zwar sehr schamempfindlich, aber sobald wir Scham empfinden, zeigen wir mit nackten Fingern auf angezogene Menschen, was eigentlich sehr schamlos ist.”
Das rühre zunächst daher, dass wir uns in einer Schuld-Kultur befänden, in der Menschen die Scham nicht als handlungsleitendes Prinzip für sich selber betrachten, weshalb sie sich nicht verschämt solidarisch mit anderen verhalten und den Anschein wahren, sondern stattdessen mit der nackten Peinlichkeit herausplatzen. Das zweite Problem, warum Menschen mit der Scham so wenig anfangen können, liege daran, dass viele Menschen ihre Zukunftsperspektiven verloren haben. Viele haben das Gefühl, sich morgen ihr Leben nicht mehr leisten zu können. Die Spirale nicht erreichbarer Ideale wird dann also als beschämend und kränkend empfunden. “Vielleicht würde es helfen, die Propaganda zu durchbrechen, die von Menschen fordert, das zu werden, was man sei.” Das verhindere nämlich, Stolz oder Ehre zu empfinden. Die würden wir nämlich nur dann empfinden, wenn wir `ein bisschen besser wären´als wir wirklich sind.
Wieder einmal spricht Pfaller mir aus dem Herzen, wenn er, wie Liessmann es formuliert, paradoxe Entwicklungen unserer Zeit aufzeigt und sie auf einen treffenden Begriff bringt. Ein Buch, das man lesen sollte – durchaus ohne sich – etwa wegen der drohenden Papierkrise – ins Eck stellen und schämen zu müssen.
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Zwei Enthüllungen über die Scham
von Robert Pfaller
S. Fischer Verlag
ISBN: 978-3-10-397137-8