Passagen – und andere Lebensabschnitte
Es gibt Dinge, die einem so am Herzen liegen, dass man sich nicht drüber traut. Dass man sie auf später verschiebt. Die Zeit ist noch nicht reif genug, sagt man sich; der Respekt davor ist zu groß. In Wahrheit wähnt man sich unvorbereitet, man ist noch nicht gut oder klug genug, um sich heranzutasten, geschweige denn sich tief einzulassen.
In meinem Leben war das seltsamerweise der Passagen Verlag, den ich spätestens seit meinem – schon ziemlich lange zurückliegenden Studium kenne und ungemein schätze. Irgendwann muss ich darüber schreiben. Mich der Bücher und der außergewöhnlichen Verlagsgeschichte annehmen, mich wirklich beschäftigen, vollends eintauchen. So dachte ich früher.
Ich weiß nicht, woher die seltsame Scheu rührte. Ich war niemals sonderlich scheu, schon gar nicht in meinem Berufsleben. Zu keiner Zeit hat mich die Beschäftigung mit intellektuellen Inhalten abgeschreckt oder etwa Gespräche mit gelehrten Menschen. Im Gegenteil. In meinem Elternhaus gehörten tiefschürfende Gesprächsrunden mit großartigen, klugen, intellektuellen Freunden zum Alltag. Ich schätzte und liebte das und begann schon in frühen Jahren, diese Praxis in mein eigenes persönliches und später berufliches Leben zu integrieren.
Am Passagen Verlag fand ich mit Zwanzig alles toll. Die Buchtitel, die Inhalte sowieso, aber auch den Titel des Verlags, die Autoren; sogar das graphische Konzept – alles zog mich magisch an. Aus der Ferne. Seltsam, denn ich hegte immer eine leise Verachtung gegenüber Verehrung oder gar Starkult – niemals hätte ich mir etwa bei einer Lesung ein Autogramm geholt und als es sich später begab, dass ich selber Lesungen veranstaltete und aus meinen eigenen Büchern las, war es mir anfangs ein wenig peinlich, wenn Menschen mir meine Bücher unter die Nase hielten und um mein Autogramm baten. Mittlerweile freue ich mich freilich darüber und fühle sogar ein wenig Dankbarkeit.
Aber zurück zum Verlag. Immer wieder stolperte ich darüber. Und jetzt ist der Zeitpunkt da, da ich explizit auf diesen Verlag aufmerksam machen möchte.
Jetzt. Da mich eine spezielle Lebenssituation zum Innehalten zwingt.
Und vielleicht haben ja in diesen letzten Monaten gar nicht so wenige Menschen von einem zweiten, einem anderen Leben geträumt.
Ein zweites Leben
Die Idee eines „zweiten Lebens“, “die François Jullien in Auseinandersetzung mit den Klassikern des chinesischen Denkens entwickelt, meint nicht Wiedergeburt oder neues Leben, sondern zeichnet einen Weg der stillen Verwandlung vor.
In diesem Essay lässt François Jullien die Begründer des Taoismus in einen Dialog mit europäischen Denkern treten. Dabei entwickelt er die Idee eines „zweiten Lebens“: Diskret und ohne Bruch findet eine Verschiebung in unserem Leben statt – es trifft nunmehr seine eigenen Entschlüsse und gestaltet sich um. Es belebt sich neu, kommt wieder in Gang, richtet seine Vorhaben und Ziele aus und gibt bislang unergründet gebliebene Möglichkeiten frei. Indem wir unsere Freiheit schrittweise entfalten, aus der Wiederholung heraustreten und Klarheit erlangen, leben wir fortan nicht mehr bloß, sondern beginnen zu existieren.”
Das Buch liegt zuoberst auf dem Bücherberg auf meinem Schreibtisch. Ich bin voller Erwartung, es zu lesen. Noch liegt es ungeöffnet da, noch bin ich in meinem zweiten Leben nicht angekommen, demnächst wird es der Fall sein. Sie werden von meinen Eindrücken lesen. An dieser Stelle. Oder Sie tauchen, unverdrossen, gleich selbst ein. Das Buch ist vor kurzem erschienen.
P.S. Vielleicht ist gerade jetzt auch Zeit, über den Demokratiebegriff nachzudenken. Unsere Welt, unsere Gesellschaft, unser Planet braucht dringend Menschen, die differenziert denken. Peter Engelmann, Verleger und Gründer des Passagen Verlags hat eine äußerst bemerkenswerte Meinung zur Demokratie. Lesen Sie sie hier.