Flucht und Fremdsein – philosophisch gesehen
“Fremde sind vielleicht Freunde, die wir heut´ noch nicht kennen”
so lautet ein Zitat Friedrich Nietzsches.
Dass sich die Philosophie anlässlich der aktuellen Situation noch kaum dieses Themas angenommen hat, mag allerdings verwundern, waren es doch Philosophen selbst, die seit Anbeginn der abendländischen Philosophie auf der Flucht gewesen sind. Wir sollten in diesem Zusammenhang über die Hintergründe von Anerkennung, Identität und Ängsten nachdenken, meint Gerd Forcher, der in Innsbruck eine Philosophische Praxis betreibt. Ich habe ihn zu einem Gastbeitrag eingeladen. Lesen Sie hier:
Flucht – und die aufklärerische Aufgabe philosophischer Praxis von Gerd Forcher
Die Begriffe „Flucht“ oder „Asyl“ ertönen täglich über Radio und Bildschirm, werden getwittert, ge-facebookt und diskutiert. Parteien versuchen damit politisches Kleingeld zu machen, europäische Regierungen fühlen sich überfordert, als hätten sie noch nie diese Worte gehört. Die Menschen, die sich tatsächlich auf der Flucht befinden, werden zum Spielball der Emotionen, politischer und medialer Stimmungsschwankungen. Wo bleiben die Signale eines aufgeklärten Europas?
Wenn es um Aufklärung geht, dann sind wohl auch die Philosophie und deren Praxis gefragt. Philosophische Praxis dient der Aufklärung, wenn sie danach fragt, warum das Phänomen „Flucht“ denen Angst macht, die gar nicht flüchten müssen, die aber von Flüchtenden „heimgesucht“ werden? Was macht konkret mir Angst? Wo sehe ich meine Identität gefährdet? Wo stehe ich umgekehrt in der Pflicht, Anerkennung zu zollen (vielleicht hat der „anerkannte Flüchtling“ ebenfalls damit zu tun)?
Flucht und Philosophie
Seit Anbeginn der abendländischen Philosophie waren Philosophinnen und Philosophen selbst auf der Flucht. Schon Pythagoras ist aufgrund der politischen Verhältnisse in seiner Heimat nach Süditalien geflohen. Protagoras soll nach einem Prozess gegen ihn aus Athen per Schiff nach Sizilien verbannt worden und – das Los vieler heutiger Flüchtlinge teilend – bei der Überfahrt ertrunken sein. Über die Jahrhunderte ließen sich die Beispiele fortführen mit ihren Höhepunkten in der Fluchtbewegung Intellektueller zur Zeit Nazideutschlands. Flucht, Migration und das Fremdsein gehören damit – zumindest biografisch – zur Philosophie und damit auch in die philosophische Betrachtung.
Fremdsein
Wenn schon das Fremdsein angesprochen ist: Möglicherweise liegt darin einer der aufklärungswürdigen Momente, in denen die Furcht vor dem Fremden und die Furcht des Fremdseins in der Distanzierung vor den Flüchtlingen zusammentreffen. Einerseits weiß niemand, der aus der Heimat flieht – egal aus welchen existenzbedrohenden Gründen –, was ihn oder sie in der Fremde erwarten wird. Im mittelhochdeutschen „ellende“ wird das noch deutlich: Das Wort „Elend“ hatte ursprünglich die Bedeutung von „Ausland“, anderes Land“, „Verbannungsort“. Könnte das Elend also noch größer werden? Andererseits fürchtet der, der den Flüchtling aufnehmen soll, ebenso das Fremde: Ich weiß nicht, wer hier kommt – wirklich jemand ihn Not oder jemand, der mir etwas wegnehmen könnte? Fremdes, da wie dort, löst Ängste im Heideggerschen Sinne aus: nebulos, nicht klar wovor – dafür umso stärker.
Identität und Anerkennung
Möglicherweise brauchen alle betroffenen Seiten die innere Gewähr, dass die eigene Identität nicht gefährdet wird, ja dass die eigene Identität anerkannt wird und bleibt. Paul Ricoeur hat dazu den Begriff der „Ipse-Identität“ gefunden. Die Ipse-Identität bestätigt mich selbst als mein eigenes Vorhaben im Kontext dieser Welt. Erzählungen, Traditionen helfen mir, diese Identität zu wahren. Und wird dies anerkannt, kann ich angstfrei Anderen begegnen und in kreativen Auseinandersetzung gehen. Das brauchen die, die Flüchtlinge aufnehmen, um sie gastfreundlich aufzunehmen – das brauchen aber auch gerade die, die auf der Flucht sind, denn sie verlieren durch die Flucht vieles an eigenen Traditionen und Vertrautem, das bislang ihre Identität ausgemacht hat. Philosophische Praxis hat hier eine Aufgabe, die sie aktiv und aufklärend nützen sollte.
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