Innehalten! Wie „ticken” wir eigentlich?
Schon wieder ist ein Jahr so gut wie vorbei. Sätze wie „die Zeit fliegt”, “ich habe keine Zeit“ oder “Zeit ist Geld“ begleiten die meisten von uns täglich; das subjektiv oft zu hohe Tempo unseres Alltags überfordert viele. Wieso sind wir eigentlich alle permanent unter Druck? Beinah wie ein Märchen mutet da eine Entdeckung an, die ich unlängst machte:
Der Verein zur Verzögerung der Zeit. Er hat seinen Sitz in Österreich, an der Alpen Adria Universität Klagenfurt, und engagiert sich seit 25 Jahren für die Erhöhung der Sensibilität des Phänomens Beschleunigung, das sämtliche gesellschaftlichen Bereiche durchzieht. Die rund 600 Mitglieder sind hauptsächlich im deutschsprachigen Raum Österreich, Deutschland und der Schweiz daheim. Ich bat den Zeitexperten Mag. Robert Lauritsch um ein paar Antworten zum Thema Zeit und deren Verzögerung. Denn, so meint er, “… die Zeiteinteilung ist so, weil wir sie uns so eingerichtet haben. Zweimal im Jahr bei der Zeitumstellung wird uns bewusst gemacht, dass die Uhrzeit eine menschengemachte Mehrheitsentscheidung ist“. Aber: “Individuen haben unterschiedliche Eigenzeiten” …
Ein Interview von Die Philosophen kommen.
Herr Lauritsch, warum empfiehlt sich ein intelligenter Einsatz des Faktors Zeit?
Die Zeit kann man eigentlich nicht einsetzen, nur die Uhrzeit in Form von Terminen und Fristen. Man kann sie freilich auch nicht beschleunigen oder verzögern. Was wir aber tun können ist, die Ereignisse und Tätigkeiten in der Zeit zu akkumulieren und zu verdichten. Und das tun wir seit der industriellen Revolution – zumindest in den Industrienationen. “Zeit ist Geld” ist einer der Leitsprüche der neoliberalen Ökonomie: je schneller man ist, desto konkurrenzfähiger, erfolgreicher, “besser” ist man. Dies äußert sich zum Beispiel im Börsensektor, wo mittlerweile Computerprogramme finanzielle Transaktionen tätigen, die sich im Nanosekundenbereich abspielen – also mit einer Geschwindigkeit, die weit über das menschliche Wahrnehmungsvermögen hinaus geht. Es äußert sich aber auch in anderen Bereichen, wie etwa der Postsortiermaschine, die Briefe so schnell sortiert, dass die immer noch notwendigen menschlichen Mitarbeiter gesundheitliche Schäden davontragen. Die Technik ist in diesem Fall aber über jeden Zweifel erhaben und anstatt zuzugeben, dass es eine Fehlinvestition war, werden die Mitarbeiter speziell darauf “trainiert” damit zurecht zu kommen – hier das Beispiel dazu.
Heute hört man oft, unser Zeitalter sei – auch in Folge neuer Technologien – schnelllebiger als es je zuvor der Fall war, ist der Mensch schon reif für diese Entwicklungen oder hinkt er ihnen hinterher (die Geister, die ich rief…)?
Die soziale und technologische Beschleunigung offenbart zunehmend die Eigenzeitgrenzen der Menschen. Alle belebten und unbelebten Systeme haben eine Eigenzeit, die bestimmt “wie sie ticken”, in welcher Geschwindigkeit Veränderungen angenommen werden oder ob es Widerstände gibt, wenn Eigenzeiten nicht berücksichtigt werden. Auch Individuen haben unterschiedliche Eigenzeiten. Wir sind bis zu einem gewissen Grad anpassungsfähig und in der Lage, auf Unvorhergesehenes zu reagieren, aber weil sich andauernd etwas ändert und das sehr schnell, laufen wir Gefahr, nicht mehr mitzukommen. Das kann psychischen Widerstand in Form von Resignation oder sogar physischen Widerstand in Form von Burn-Out bedeuten. Um dem entgegenzuwirken, sollten wir uns, wann immer möglich, die Frage stellen, ob es gut ist, wie wir es uns eingerichtet haben und ob wir das wirklich wollen. Sich diese Fragen zu stellen benötigt auch einen entsprechenden Ort und der Verein zur Verzögerung der Zeit ist ein solcher.
Geht die soziale Beschleunigung mit der technologischen einher?
Teilweise ja, aber eben auch mit der Entwicklung von Sozialtechnologien, die zwar gut gemeint sind, aber in ihren Wirkungen oft ins Gegenteil umschlagen. Zum Beispiel ist die Autonomie ein geschätztes Gut, ihre Verankerung als Status von Institutionen öffentlichen Interesses erzeugt aber zugleich den Ruf nach Transparenz und Kontrolle von außen. Wie aber kontrolliert und vergleicht ein nicht Fachkundiger eine spezialisierte Institution? Die neoliberale Antwort darauf lautet Leistungsquantifizierung. Leistungen werden in blanken Zahlen ausgedrückt, weil man die messen, vergleichen, „ranken“ und kontrollieren kann. Aufwand und inhaltliche Qualität der Leistungen spielen keine Rolle. Das Erfüllen der Leistungsquote und das eigene daran-gemessen-Werden erzeugen Druck und verformen die menschliche Existenz. “Man ist nur eine Nummer” galt als Schreckgespenst überdimensionierter, unpersönlicher, hierarchischer Organisationen, aber das hält nunmehr auch Einzug in den öffentlichen Sektor, der mit wichtigen Aufgaben betraut ist, um das gute Zusammenleben zu gewährleisten.
Der Verein zur Verzögerung der Zeit veranstaltet jährlich ein internationales Symposium – wer sind die Experten, um welche Themen geht es dabei?
Das Symposium folgt in seinem Ablauf nicht dem üblichen Design von Tagungen oder Kongressen, sondern räumt allen Aspekten mehr Zeit ein. Die Vortragenden sind auch Teilnehmerinnen, die über die gesamte Dauer der Veranstaltung anwesend sind. Wir sind auch darum bemüht, nicht mehr als drei Vortragende zu gewinnen, denn ein zentrales Element des Symposiums ist der Open Space. Das ist ein Großgruppen-Design, in dem mehrere Workshops parallel laufen und in dem Workshop-Leiter_innen im Vorfeld der Organisation mehrheitlich nicht bekannt sind. Damit schaffen wir genügend Raum, und ausreichend Zeit für Teilnehmer_innen, sich zu unterschiedlichen Themen je nach Interessenslage austauschen zu können. Das Symposium widmet sich stets einem Leitthema, im Jahr 2015 war dies “Verspielte Freiheit”. Dem Thema sind die Vortragenden verpflichtet, nicht aber die Workshops.
Foto und weitere Infos dazu: Verein zur Verzögerung der Zeit.
Mehr Interviews wie dieses? Hier, in den beiden Büchern aus der Reihe “Die Philosophen kommen”. Ideal auch als Weihnachtsgeschenk.
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